John Dewey und Georg Kerschensteiner im Streit um die Berufs- und Allgemeinbildung.In: John Dewey als Pädagoge. Erziehung - Schule - Unterricht. Hrsg. Franz-Michael Konrad und Michael Knoll. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2018. S.271-291. Überarbeitete Fassung von: Der Streit um die Einführung der Fortbildungsschule in den USA, 1910-1917. In: Pädagogische Rundschau 47 (März 1993), S. 131-145. Hier ein Auszug:
Im
Frühjahr 1910 lud Charles R. Richards, der Präsident der National Society for
the Promotion of Industrial Education, den Münchener Stadtschulrat Georg Kerschensteiner
zu einer Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten ein, damit die
amerikanische Öffentlichkeit aus erster Hand erfahre, was es mit dem
vielzitierten, aber wenig bekannten Münchener Modell der Berufsbildung auf sich
habe. Die National Society war der mächtigste Lobbyist und Interessenverband
innerhalb des „vocation education movement“ (Knoll 1999a). Ihm gehörten
Persönlichkeiten aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens an, unter anderen Jane
Addams, Leiterin des Hull House, Henry S. Pritchett, Präsident des Massachusetts
Institute of Technology, Frank Vanderlip, Präsident der National City Bank und F.
J. McNulty, Präsident der International Brotherhood of Electrical Workers. Vier
Jahre zuvor gegründet, hatte sich die Society zum Ziel gesetzt, die Kräfte zu
bündeln, die den Rückstand auf dem Gebiet der beruflichen Bildung beseitigen
wollten, der das Wirtschaftswachstum und den Wohlstand des Landes zu hemmen
drohte und der, insbesondere wegen der erstarkten deutschen Konkurrenz, den
amerikamischen Unternehmern und Politikern größte Sorgen bereitete.
Kerschensteiner
nahm die Einladung gerne an. Sie gab ihm die Möglichkeit, Kultur und
Erziehungssystem eines Landes kennenzulernen, das ihn interessierte. Zudem
eröffnete sie ihm die Chance, nicht nur den von ihm verehrten Erfinder Thomas
Edison zu besuchen, sondern auch bei dem Erziehungsphilosophen vorzusprechen,
den er mehr als jeden anderen Pädagogen der Gegenwart bewunderte – John Dewey. Bereits
drei Jahre zuvor hatte Kerschensteiner Deweys Bestseller The School and Society gelesen, aber sich auch bald intensiv mit The Child and the Curriculum, The Educational Situation und Moral Principles of Education beschäftigt,
und seitdem verbanden ihn mit dem Amerikaner „tausend Fäden“. „Viele meiner oft
noch ungeklärten Anschauungen haben durch das intensive Studium seiner
Schriften Klarheit in mir gewonnen“, bekannte er später (Kerschensteiner 1926, S.
135).
Im
Herbst 1910 reiste Kerschensteiner also durch die Vereinigten Staaten, hielt
Vorträge und visitierte Schulen. Auch die Begegnung mit Dewey kam tatsächlich
zustande. Am 29. November trafen sich die beiden führenden Reformpädagogen
ihrer Länder im Faculty Club der Columbia University in New York zum Lunch. Es
war nur ein flüchtiges Kennenlernen. Doch Kerschensteiner war zufrieden.
„[Treffe] Prof. Dewey, der einen ausgezeichneten Eindruck macht“, notierte er
in sein Reisetagebuch. „Er hat den typischen langen Kopf der Amerikaner, einen
Schnauzbart, Zwicker, reiches Haar und einen sehr freundlichen Zug im Gesicht.
Wir unterhalten uns sehr gut, zwei Stunden“ (Kerschensteiner 1910). Auch Dewey
war beeindruckt. „Ich hatte kürzlich das Vergnügen, Dr. Kerschensteiner in New
York zu treffen“, schrieb er an Frank A. Manny, seinen Schüler und Freund, der
Kerschensteiner 1907 in München besucht und ihn mit Deweys
Erziehungsphilosophie bekannt gemacht hatte. „Es war ein außerordentliches
Vergnügen. Er [Kerschensteiner] ist einer der reizendsten Menschen, den ich
seit langem getroffen habe“ (Dewey 2005, 1910.12.24, 02516).
Die
Begegnung verlief herzlich, und Harmonie war auch das Bild, das die Folgezeit
vermittelte. Kerschensteiner rezipierte mehr denn je die Schriften von Dewey,
und selbst Dewey griff gelegentlich auf Arbeiten von Kerschensteiner zurück,
wenn er über Lehrplantheorie und Berufsbildung schrieb (etwa Kerschensteiner 1910,
Vorwort, 1912, S. 40 u.ö., MW 6, S. 404, MW 7, S. 101). Doch die Idylle
täuscht. Übereinstimmung herrschte nur an der Oberfläche. In Wirklichkeit
vertraten Kerschensteiner und Dewey gegensätzliche Positionen – ja, sie waren
Kontrahenten in einer Auseinandersetzung, wie sie die progressive Erziehungsbewegung
noch nicht erlebt hatte (Lazerson/Grubb 1974, Gordon 1999, Kliebard 1999).
Tatsächlich hatte Kerschensteiner seine Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten
kaum beendet, da initiierte die National Society for the Promotion of
Industrial Education eine großangelegte Kampagne, in der sie das Münchener
Modell der beruflichen Fortbildungsschule zur Grundlage der von ihr im Bund und
den einzelnen Staaten angestrebten Gesetzgebung machte.
Ursprünglich
war die Gesetzesinitiative zur staatlichen finanzierten Berufsbildung von der
Douglas Commission (1906) in Gang gesetzt worden, nun wurde sie von einflussreichen
Pädagogen und Politikern vorangetrieben – vor allem von David S. Snedden (1909,
1910), dem State Commissioner of Education in Massachusetts, von Charles A.
Prosser (1913, 1925), seinem Deputy, von Edwin G. Cooley (1909, 1911, 1912), dem
früheren Schulsuperintendenten und jetzigen Referenten des Commercial Club von
Chicago, von Charles McCarthy (1912), dem Reformpolitiker und Chef der
Legislative Reference Library in Madison, Wisconsin, und von William F. Book (1913,
1915, 1917), dem State Director of Vocational Education in Indiana. Doch die
Initiative fand nicht die ungeteilte Zustimmung aller – im Gegenteil: die
Opposition war stark, und an ihrer Spitze stand kein Geringerer als John Dewey.
Dewey kritisierte Snedden, Cooley und Book, doch seine Kritik traf natürlich
vor allem Kerschensteiner, den spiritus rector des berufspädagogischen
Konzepts, das McCarthy, Cooley und Book zunächst in Wisconsin, Illinois und
Indiana, später im ganzen Bund einführen wollten. Der Streit um das Münchener Modell
und den Aufbau eigener Behörden für die beruflichen Schulen war eine der ganz großen
Auseinandersetzungen in der Epoche der amerikanischen Reformpädagogik. Er wurde
nicht direkt zwischen Dewey und Kerschensteiner ausgetragen, aber er ließ an
Klarheit, Eindeutigkeit und Schärfe nichts zu wünschen übrig.
Die
Geschichte dieser Auseinandersetzung ist noch nicht geschrieben worden. Bisher
gibt es nur Arbeiten, die, auf deutscher Seite, Kerschensteiners Verhältnis zu Dewey
(Prantl 1927, Niethammer 1984, Bittner 2001, Retter 2009) und auf amerikanischer
Seite, Deweys Konflikt mit Snedden und Cooley darstellen (Wirth 1972, Drost
1979, Wrigley 1982, Labaree 2010). Worüber
wir in der deutschen und amerikanischen Literatur indes kaum etwas erfahren,
ist die Frage, was Dewey von Kerschensteiners Erziehungskonzept hielt und
inwieweit seine Vorbehalte gegen die sog. „Verpreußung“ des amerikanischen
Bildungssystems berechtigt waren. Eine Antwort soll hier versucht werden. Sie
lässt sich anhand der Berufsbildungsdebatte der Jahre 1910 bis 1917 besonders
gut angehen (Linton 1995), weil die Diskussion über die Vor- und Nachteile der
beruflichen Fortbildungsschule in den Vereinigten Staaten Argumente enthält,
die einerseits Deweys Kritik an Kerschensteiners Bildungstheorie prägnant zum
Ausdruck bringen, andererseits zeigen, dass auch Kerschensteiners Schulkonzept
den Anspruch erheben konnte, der Demokratie und Chancengleichheit zu dienen.
Kerschensteiners Vorträge in Amerika
Die
Reise in die USA dauerte drei Monate, vom 12. Oktober bis zum 21. Dezember
1910, und führte Kerschensteiner zunächst nach New York, Boston und
Philadelphia, dann nach Cincinnati, St. Louis und Chicago (Toews 1955, S.
154-162). Was er dort in den Wirtschaftszentren des Nordostens und Mittleren
Westens vor Pädagogen, Industriellen, Gewerkschaftern und Politikern vortrug,
war die Theorie und Praxis der „Berufsbildung neuer Art“, wie er sie seit der
Jahrhundertwende in München entwickelt hatte. Im Wesentlichen handelte es sich
um drei Vorträge: Die Grundlagen für die
Organisation von Fortbildungsschulen, Die
Organisation der Fortbildungsschule in München und Die technischen Tagesfachschulen in Deutschland. Die Vorträge
wurden unter dem Titel Three Lectures on
Vocational Training vom Chicago Commercial Club (Kerschensteiner 1911)
veröffentlicht, aber sie erschienen einzeln und in Auszügen auch in zahlreichen
Fachjournalen, Vereinsbulletins, Jahrbüchern und pädagogischen Textsammlungen (Knoll
1993).
In
seinen Vorträgen ging Kerschensteiner von der These aus, dass es die Aufgabe
des Staates sei, für die berufliche Bildung seiner Bürger zu sorgen. Die
Wohlfahrt eines Landes, erklärte er, sei nicht nur durch den Reichtum seiner
Bodenschätze, sondern auch durch das Bildungsniveau seiner Bevölkerung bestimmt.
Kerschensteiner war sich im Klaren, dass er damit die amerikanische Auffassung
von der Funktion der Schule in Frage stellte. Nach amerikanischer Auffassung,
sagte er, habe die öffentliche Schule, die „common school“, die allgemeine
Bildung zu fördern. Sie habe sicherzustellen, dass die Kinder Lesen, Schreiben,
Rechnen lernten und über Geschichte, Erdkunde und Literatur Bescheid wussten.
Aber wenn die Kinder nach acht Jahre die Common School verließen, dann habe der
Staat seine Pflicht als Übermittler der Kultur und als Erzieher seiner Bürger
erfüllt; denn für die „spezielle“, berufliche, Bildung seien nicht Staat und
Gemeinde, sondern der Industrie und Wirtschaft verantwortlich. Kerschensteiner
fand diese Auffassung unhaltbar. Der Staat, argumentierte er, dürfe sich nicht
nur um die Kinder kümmern, die an High School und College eine höhere Bildung
erstrebten; vielmehr müsse er sich auch für die Erziehung der Mehrheit der
Kinder einsetzen, die aus Schulmüdigkeit, ökonomischer Notwendigkeit oder Sehnsucht
nach materieller Unabhängigkeit mit vierzehn Jahren in Beruf und Arbeit
standen. „Die frühzeitige berufliche Erziehung [… kann] keineswegs eine
Privatsache sein, sondern nur eine Sache der Allgemeinhit, eine Sache des
Staates“ (AKM 200, S. 7). Was dem amerikanischen Schulwesen fehle, erklärte
Kerschensteiner, seien von den allgemeinbildenden Schulen unabhängige
öffentliche Berufsschulen, d.h. „Fortbildungsschulen“ oder „continuation
schools“, wie sie in München existieren. [...]