Auf den Schultern von
Riesen:
John Dewey und die Maxime “Learning by Doing”. In: Pädagogische Rundschau 76 (2022), H. 2, S. 131-146. [...]
2. Francis W. Parker und seine Kampagne für “learning by
doing”
Der
Ausdruck „learning by doing“ tauchte seit den 1860er Jahren gelegentlich in
Büchern und Artikeln über Erziehung auf, in der Regel ohne Nennung der Quelle.
John S. Hart, Professor für Belletristik und englische Literatur am Princeton
College, verkündete kurz und bündig: „Wir lernen, etwas zu tun, indem wir es
tun. Es gibt keinen anderen Weg.“ John D. Philbrick, Superintendent der Schulen
in Boston, verurteilte das übliche Auswendiglernen und forderte eine
grundlegende Reform der Unterrichtsmethode. „Der Lehrer“, schrieb Philbrick,
„sollte sich ziemlich sicher sein, dass das Kind weiß, bevor er es zum Auswendiglernen auffordert; [... die Arbeit]
besteht eher im Lernen durch Tun und Anwenden und Üben und nicht im
Auswendiglernen.“ In ihrem Vortrag „The Industrial Education of Women“ wies
Jeanne C. Carr darauf hin, dass „Fröbel sagte ‚Wir lernen durch Tun‘. Es ist
die Trennung von Lernen und Tun in den ersten zwanzig Lebensjahren, die das
Elend unserer Zeit ausmacht und die Zahl der Kriminellen und Verarmten unter
den industriellen Schwachsinnigen erhöht.“ [i]
Und George W. Hoss, der Herausgeber des Indiana
School Journal, versuchte, junge Lehrer als Autoren für seine Zeitschrift
zu gewinnen, indem er ihnen einen professionellen Rat gab:
Junge
Freunde, denkt daran, dass man das Schreiben
lernt, wie man Schlittschuhlaufen oder Schwimmen lernt – durch Übung. Schreiben lernt man nicht, indem
man schöne Lobreden über das Schreiben hört, und auch nicht, indem man elegante
Essays liest und bewundert. In diesem wie in fast allen anderen Bereichen
lernen wir tun durch Tun, und nicht, indem wir über das Tun theoretisieren. Eher die Praxis als ein
ungeschultes Genie muss eurer Feder Nachdruck und euren Gedanken Flügel
verleihen. Deshalb, junge Freunde, der Weg ist frei; fangt an.[ii]
Doch
es war Francis W. Parker, der berühmte Schulsuperintendent aus Quincy,
Massachusetts, der Comenius‘ Motto in der personalisierten Form „we learn to do
by doing“ zu dem kraftvollen Slogan machte, der die Pädagogen damals begeisterte
und heute in der ganzen Welt elektrisiert. In dem ersten, gegenwärtig fast
unbekannten Bestseller der „progressiven Erziehungsbewegung“, der unter dem
Titel Notes of Talks on Teaching 1883
erschien, plädierte Parker vehement für eine radikale Reform des gesamten Schulwesens,
vom Kindergarten bis zur Elementar- und High School – ein Projekt, das, wie er
eilends hinzufügte, weder einfach noch schnell umzusetzen sei. „Die Arbeit der
nächsten hundert Jahre“, sagte er, „wird darin bestehen, sich von den
traditionellen Formen zu lösen und zu den natürlichen Methoden zurückzukehren.“
Während Parker sich inhaltlich auf Fröbel bezog, der „Wachstum“, das heißt, die
„harmonische Entwicklung des Menschen“, zum Endziel der Erziehung erklärt hatte,
wandte er sich an Comenius, um die geeignete Lehr-Lern-Methode auszuwählen.[iii]
Ich
behaupte zwei Dinge: Erstens, dass es keinen einzigen Augenblick gibt, den man
um der Disziplin willen mit irgendetwas verbringen sollte, das nicht einen
praktischen Nutzen für den Aufbau des Geistes hat; zweitens, dass, wenn die
Arbeit dem Zustand der geistigen und körperlichen Kraft und Fähigkeit angepasst
ist, wenn jede Vorwärtsbewegung Erfolg bringt, wenn die Arbeit echt ist (d.h.
mit echten Dingen und nicht mit Plackerei), dann soll das Kind learn to do by doing; denn die
Freude am Tun und die daraus resultierenden Erfolge eignen sich am besten für
einen Menschen, um sich selbst zu beherrschen und alle Schwierigkeiten und
Hindernisse zu meistern, die vor ihm liegen. […] Was ich Ihnen vermitteln
möchte, ist das eine pädagogische Prinzip, das über allen anderen steht – we learn to do by
doing. […] Das Gesetz, dass we learn to do by doing, kommt hier mit
voller Wucht zum Tragen. Die Bedeutung der Schulung des Willens durch die
Entwicklung des Wissens um das Richtige kann nicht hoch genug eingeschätzt
werden. Das Wissen um das Richtige entsteht, wenn man den Verstand dazu bringt,
die Wahrheit zu entdecken. Die Wahrheit nützt nichts, wenn sie nicht in Taten
umgesetzt wird. Zu Hause und in der Schule gibt es zahllose Gelegenheiten für
dieses Handeln. Diese Gelegenheiten sollten von der Mutter oder dem Lehrer
ergriffen und als Mittel zur Schulung der Selbstbeherrschung genutzt werden.
Ich kann nicht oft genug die große Wahrheit wiederholen, dass we learn to do by
doing.[iv]
Zu
diesem Zeitpunkt sagte Parker nicht, was er genau mit „Tun“ meinte; später
jedoch erweiterte er die Maxime über den herkömmlichen Gebrauch hinaus, indem
er das Denken als eine Form des Tuns einbezog. „Es ist gesagt worden“,
verteidigte Parker seine Position, „dass das Denken dem Tun vorausgehen muss,
aber Denken ist Tun. Das Tun ist die Manifestation des Denkens durch den
Körper.“ Mit dieser und ähnlichen, noch weiter gefassten Definitionen
bezeichnete Parker jede denkbare Form menschlicher Tätigkeit als „Tun“ und
verwässerte damit Comenius‘ Konzept mehr oder weniger zu einem trügerischen Gemeinplatz.
Es ist daher unpassend und etwas irreführend, wenn Edward Dangler in einer
biographischen Würdigung Parker als den „amerikanischen Comenius“ bezeichnet.[v]
Parkers
enge Mitarbeiterin Lelia E. Patridge interpretierte Comenius auf andere Weise. In The Quincy System: Pen
Photographs from the Quincy Schools von 1885 bezeichnete Patridge den
Slogan „we learn to do by doing“ als „die goldene Regel des Lehrers“. „Übung,
ständiges und ununterbrochenes Üben“, erklärte sie, „ist das Einzige, was im
Bereich der technischen Fertigkeiten perfekt macht.“ In der Tat hatte Comenius
von der „goldenen Regel für alle Lehrenden“ gesprochen, allerdings hatte er den
Begriff anders verwendet. Bereits 250 Jahre bevor Montessori die Devise „Lernen
mit allen Sinnen“ ausgegeben hatte, schrieb Comenius: „Alles soll, wo immer
möglich, den Sinnen vorgeführt werden, was sichtbar dem Gesicht, was hörbar dem
Gehör, was riechbar dem Geruch, was schmeckbar dem Geschmack, was fühlbar dem
Tastsinn.“[vi]
Wieder einmal schaltete sich William Hailmann ein. In dem bemerkenswerten Aufsatz
„The Natural or Developing Element in Modern Methods of Elementary Culture“ von
1887 wies Hailmann darauf hin, dass Patridge und andere Zeitgenossen die
Absicht von Comenius falsch verstanden hätten, indem sie das „Lernen durch Tun“
auf Geschicklichkeit und Übung beschränkten und damit den Schwerpunkt vom
„Lernen durch Wahrnehmung“ auf das „Lernen durch Training“ verlagerten. „Nichts
in seiner Didactica“, so Hailmann, „rechtfertigt
die Schlussfolgerung, dass dies auf andere Weise als durch Worte und Bilder
geschehen sollte.“[vii]
Die
Kritiken, die Parkers Notes of Talks on
Teaching erhielt, waren gemischt, aber seine provokativen Behauptungen
weckten die Neugierde und kurbelten den Verkauf an. Innerhalb von drei Jahren
wurden 30.000 Exemplare seiner Vorlesungen verkauft, und innerhalb von acht
Jahren wurden 13 Auflagen veröffentlicht. „Learning by doing“ wurde zum
Schlachtruf der „neuen Erziehung“. Gartenbauvereine, Handelshochschulen und
Militärakademien warben mit diesem Slogan für ihre Dienstleistungen, ebenso wie
Felix Adlers Workingman's School, Samuel C. Armstrongs Hampton Institute und
die Indian Rice Station School in Talklai, Arizona. Lehrerverbände
organisierten nationale und regionale Kongresse; Lehrerseminare und öffentliche
Schulen übernahmen die Maxime in ihre Lehrpläne; Zeitungen und Buchverlage
griffen das Thema auf. Auch Carl C. Marshall folgte dem Trend, weil er glaubte,
eine profitable Marktlücke entdeckt zu haben. 1897 brachte Marshall die hoch
gelobte, aber kurzlebige Zeitschrift Learning
by Doing in Battle Creek, Michigan heraus, die – wie zahlreiche
pädagogische Journale der Zeit – eine Fülle von Artikeln zu den Bereichen
Ethik, Werkarbeit, Naturkunde, Kindergarten und landwirtschaftliche Erziehung
enthielt. Kein Wunder, dass John Whitburn in seinem Bericht für die englische
Mosely Educational Commission von 1904 zu dem Schluss kam: „Das
Kindergarten-Motto ‚learning by doing‘ ist heutzutage das Hauptmerkmal des
amerikanischen Bildungssystems.“[viii]
Trotz
der großen Begeisterung, die Parkers Initiative auslöste, meldeten sich
sogleich zahlreiche Pädagogen zu Wort und übten heftige Kritik an dem „neuen
Aufbruch in der Erziehung“. Amory D. Mayo, der unitarische Geistliche und
Pädagoge aus Massachusetts, und William H. Payne, der Professor für Pädagogik
an der Universität von Michigan, beschworen die Gefahr, dass „learning by
doing“, wenn falsch und unprofessionell praktiziert, leicht in „Quacksalberei“
und den „Veitstanz unserer neuen Erziehung“ ausarten könne.[ix]
Mayo und Payne waren mit Aristoteles und Comenius davon überzeugt, dass in der
Erziehung wie im Leben „Wissen die notwendige Vorbereitung für das Tun ist“. Folglich
sollte die Maxime stattdessen lauten: „we learn to do by knowing.“ George P. Brown, der Präsident der Indiana
State Normal School, bezeichnete die Begeisterung für die neue Lehre als „Parkerismus“
und beklagte den Slogan als einen Aphorismus, der „in einer wissenschaftlichen
Diskussion über die Kunst des Lehrens vermieden werden sollte“. Parker,
erklärte Brown, habe den Begriff über alle Maßen ausgedehnt, indem er verkündete,
dass „jede Aktivität, ob geistig oder körperlich, im Sinne der Maxime ein Tun ist. Wahrnehmen, Erinnern,
Vorstellen, Urteilen, Denken und dergleichen sind Tun“. Sarkastisch fügte Brown hinzu: „Wie viele von uns sind ihr
ganzes Leben lang New Educationists gewesen, ohne es zu wissen!“[x]
George Howland, School Superintendent in Chicago, hieb in dieselbe Kerbe, aber
mit weniger Spott und Polemik:
We learn
to do by doing – das ist eine jener aphoristischen Halbwahrheiten, die gut
geeignet sind, das Ohr zu fesseln und den Verstand der Nichtdenkenden zu
täuschen. Wir können uns eine mechanische Fertigkeit aneignen, indem wir
wiederholen, was wir bereits zu tun wissen, aber wir lernen zu tun, indem wir
lernen, wie andere Menschen tun, und mit Hilfe dieses Wissens danach streben,
etwas besser zu tun. Die ständige Wiederholung dessen, was wir können, stumpft
den Intellekt ab, erstickt die Erfindungskraft und hemmt den Fortschritt. Wenn
das wahr wäre, bräuchte man keinen Schuldirektor, kein Lehrerseminar oder
irgendeine Schule. Fröbel und Pestalozzi, [Horace] Mann und [John] Hopkins
könnten außer Acht gelassen werden, und unsere Kinder würden durch Tun tun
lernen, nicht durch Unterricht, nicht durch sachkundige Ausbildung, nicht durch
Studium und Lektüre der Weisheiten und historischen Berichte der Vergangenheit.
Nein, meine Freunde, durch bloßes Tun würden die Generationen von Menschen in
tausend Jahren weder die Schulkreide noch das Schinkensandwich zustande gebracht
haben.[xi]
[...]