In: Lehren und
Lernen. Zeitschrift des Landesinstituts für Erziehung und Unterricht Stuttgart
29 (Dezember 2003), S. 4-8. Hier erweitert um den Abschnitt 3 über "Die Beutung der Pisa-Studie".
Auch wenn die Tatsache immer noch
nicht von allen akzeptiert wird, in Wirklichkeit ist die Bundesrepublik seit
Mitte der fünfziger Jahre Schritt für Schritt zu einem Einwanderungsland
geworden. Vereinfacht lassen sich vier (Im-)Migrationsgruppen von
unterschiedlicher Größe, Herkunft und Bedeutung unterscheiden:
-
Arbeitsmigranten aus ehemaligen Anwerberländern wie
Italien, Spanien, Griechenland und der Türkei
-
deutschstämmige
Aussiedler aus Rumänien, Polen und der ehemaligen Sowjetunion
-
Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge
aus dem Balkan und der Dritten Welt
-
Zuwanderer
aus der EU und
anderen Ländern als Folge der internationalen Arbeitsmobilität
Heute leben ca. 7,4 Millionen
Ausländer, d. h. Einwohner ohne deutsche Staatsangehörigkeit, in der
Bundesrepublik, was etwa 9 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Hinzu
kommen ca. 4 Millionen Spätaussiedler, die staatsrechtlich den Deutschen
gleichgestellt sind und schulstatistisch daher nicht eigens erfaßt werden. Von
den Schulabsolventen mit Ausländerstatus haben ca. 11 Prozent die allgemeine
Hochschulreife, 40 Prozent den Hauptschulabschluß und 15 Prozent kein
Abschlußzeugnis. Zum Vergleich: die deutschen Schüler besitzen zu knapp 30
Prozent das Abitur, zu gut 30 Prozent die Mittlere Reife und zu etwa 35 Prozent
den Hauptschulabschluß. Für Baden-Württemberg gilt, daß 20 bis 25 Prozent aller
hier lebenden Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund haben (vgl.
Baumert 2001, Süßmuth 2001, Schuch 2003).
Die massive Zuwanderung aus dem Ausland hat die Schule
grundlegend verändert. Heute sind die bundesdeutschen Klassen fast immer
mehrsprachig und multikulturell. In Großstädten und Industriegebieten gibt es
Klassenzimmer, in denen Schüler aus zehn und mehr unterschiedlichen Nationen
sitzen und miteinander unterrichtet werden müssen. Zudem ist das allgemeine Bewußtsein
für die zunehmende Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse gestiegen. Die
Chancen der weltweiten Vernetzung werden ebenso kontrovers diskutiert wie die
Probleme der Pluralisierung der Gesellschaft, der Internationalisierung der
Politik und der Globalisierung der Wirtschaft. Für die Schule bedeutet dies, um
lebensnah und verantwortungsvoll zu bleiben, daß sie die Kinder - sowohl
deutscher wie ausländischer Herkunft - auf die Anforderungen einer
multikulturellen Gesellschaft, eines mobilen Arbeitsmarktes und des Lebens in
einer „einzigen Welt“ und in einer „offenen Republik“ vorbereiten muß (vgl.
Oberndörfer 1994, Kultusministerkonferenz 1996).
1. Die Entwicklung der
interkulturellen Pädagogik
Die deutsche Erziehungswissenschaft –
wie auch die der europäischen Nachbarländer – hat sich mit dem Phänomen der
Zuwanderung und der Internationalisierung der Schule verhältnismäßig spät
auseinandergesetzt. Erst Anfang der siebziger Jahren entstand innerhalb der
Pädagogik eine Teildisziplin, die sich mit den „Ausländern“ und d. h.
insbesondere mit den in Süd- und Südosteuropa und in der Türkei angeworbenen
„Gastarbeitern“ beschäftigte. Gemäß der politischen Vorgabe, daß sich die
Gastarbeiter nur relativ kurz und vorübergehend in Deutschland aufhalten
würden, verfolgte die sog. „Ausländerpädagogik“ ein doppeltes Ziel: zum einen
sollten die Gastarbeiterkinder ihre „Defizite“ - vor allem in der deutschen
Sprache - abbauen, damit sie das Schulsystem der Bundesrepublik überhaupt
nutzen und mit Erfolg durchlaufen konnten; zum anderen sollten sie ihre
ursprüngliche „kulturelle Identität“ - etwa durch muttersprachlichen
Ergänzungsunterricht - bewahren, damit sie wieder in ihre Heimatländer
zurückkehren und dort ohne große Umstellungsschwierigkeiten die Schule weiter
besuchen konnten (vgl. Müller 1974).
Als sich in den achtziger Jahren
abzeichnete, daß die als „Gastarbeiter“ zugezogenen Italiener, Griechen,
Türken, Jugoslawen mit ihren nachgeholten Familien zumeist in Deutschland
bleiben würden, und als sich - in den neunziger Jahren - überdies
herausstellte, daß immer mehr Asylbewerber, Flüchtlinge und deutsche Aussiedler
in die - inzwischen vergrößerte - Bundesrepublik einwandern wollten, um vor
politischer Verfolgung, gesellschaftlicher Diskriminierung und wirtschaftlicher
Verarmung sicher zu sein, änderte sich die Perspektive. Die
Erziehungswissenschaftler gaben nun die Doppelstrategie der
„Ausländerpädagogik“ auf und entwickelten das Konzept einer ganzheitlichen
„interkulturellen Pädagogik“. Neu und überzeugend war, daß die interkulturelle
Pädagogik alle zugewanderten Gruppen als permanenten Bestandteil der
bundesrepublikanischen Gesellschaft ansah und darüber hinaus auch die deutschen
Kinder und Jugendlichen als gleich wichtige Adressaten ihrer erzieherischen
Bemühungen betrachtete (vgl. Borelli 1986).
Die Erkenntnis, in einem
Einwanderungsland, aber auch in einem expandierten Europa und in einer
globalisierten Welt zu leben, entfachte eine heftige pädagogische - und
politische - Diskussion, die komplex und noch lange nicht abgeschlossen ist.
Innerhalb der interkulturellen Pädagogik kann man heute drei Richtungen
unterscheiden:
-
den begegnungsorientierten
Ansatz: er setzt bei der kulturellen „Differenz“ und „Vielfalt“ der
bundesrepublikanischen Gesellschaft an und greift den Umgang mit Mitgliedern
anderer Nationalität und Lebensweise als zentrales Problem der interkulturellen
Erziehung auf. Dabei wird eine Chance darin gesehen, die Begegnung mit dem
jeweils Anderen als existentielle Bereicherung zu erleben. Persönlicher Kontakt
und Austausch sollen dazu beitragen, daß einerseits alte Vorurteile und
Barrieren abgebaut, andererseits neue Einstellungen und Verhaltensweisen
aufgebaut werden, die zur gegenseitigen Verständigung und zur sozialen
Assimilation der Migrantenkinder beitragen (Nieke 2000).
-
den strukturorientierten
Ansatz: er konzentriert sich auf die gesellschaftlichen Strukturen und
Ungleichheiten, denen vornehmlich Zuwanderer ausgesetzt sind und die ihre
soziale Integration und politische Partizipation erschweren bzw. verhindern.
Interkulturelle Erziehung ist hier ein Aspekt nicht des sozialen Lernens,
sondern der politischen Bildung. Damit Menschen unterschiedlicher Kultur und
Herkunft friedlich und konstruktiv zusammenleben können, genügt es nach dieser
Auffassung nicht, daß die Schule persönliche Beziehungen anbahnt und lebendige
Partnerschaften aufrechterhält; vielmehr hat sie alle Schüler darüber
aufzuklären, daß zur Bekämpfung von Nationalismus, Rassismus und
Fundamentalismus zunächst und vor allem die Lebensverhältnisse der Zuwanderer
verbessert und die diversen Formen der institutionellen Diskriminierung,
wirtschaftlichen Ausbeutung und gesellschaftlichen Marginalisierung beseitigt
werden müssen (vgl. Diehm/Radke 1999).
-
den bilingualen
Ansatz: er zielt weniger auf Integration und Assimilation als auf Isolation
und Segregation ab. Der Grund, warum nach Meinung der Bilingualisten in der
bundesdeutschen Schule die ausländischen Muttersprachen und die dazugehörigen
Herkunfts- und Migrantenkulturen als gleichberechtigte Bildungsinhalte
eingeführt werden sollen, ist die Annahme, daß die Zuwandererkinder sich
andernfalls von ihren Familien entfremden, eine beschädigte Identität
entwickeln und ein negatives Selbstwertgefühl ausbilden. Manchmal verbindet man
mit dem bilingualen bzw. bikulturellen Konzept die weitergehende Forderung, daß
sich die deutschen Schüler an die neuen Gegebenheiten anpassen und außer den
Weltsprachen Englisch und Französisch auch noch die Sprachen ihrer
ausländischen Klassenkameraden erlernen sollen (vgl. Siebert-Ott 2001).
Die interkulturelle Pädagogik, wie sie
sich als Teildisziplin in der Bundesrepublik etabliert hat, ist wesentlich von
Ideen und Vorstellungen beeinflußt, die aus anderen Bereichen der Pädagogik
stammen, so insbesondere aus der Friedens-, Europa- und Dritte-Welt-Pädagogik,
aber auch aus der „antirassischen Erziehung“ und der „Pädagogik der Vielfalt“.
Letztere will unsere Sicht der „multikulturellen Gesellschaft“ erweitern und
soziale Gruppen miteinbeziehen, die gleichfalls anders, „different“, sind und
am Rande der Gesellschaft stehen wie etwa Frauen, Homosexuelle und Behinderte
(vgl. Prengel 1995).
2. Prinzipien und Ziele der
interkulturellen Bildung
Folgt man Georg Auernheimer (2003:
20ff.), dann handelt es sich bei der interkulturellen Pädagogik um ein
Erziehungskonzept, das auf zwei Grundsätzen beruht: auf dem Prinzip der
„Anerkennung“ und auf dem Prinzip der „Gleichheit“. Während das Prinzip der
„Gleichheit“ - vereinfacht gesagt - mit dem strukturorientierten Ansatz
korrespondiert und sich gegen Rassismus und soziale Ungerechtigkeit richtet,
ist das Prinzip der „Anerkennung“ sowohl dem bilingualen als auch dem
begegnungsorientierten Ansatz verbunden und geht von der Annahme aus, daß
gesellschaftliche Vielfalt existiert und als solche akzeptiert, genutzt und
verarbeitet werden muß. Das Prinzip der „Anerkennung“ hat den bisher in diesem
Zusammenhang gebräuchlichen Begriff der „Toleranz“ weitgehend abgelöst.
Toleranz, so heißt es nun, habe den „Beigeschmack der bloßen Duldung“ und unterstelle
ein Machtungleichgewicht zwischen einer Mehrheit, die toleriert, und einer
Minderheit, die toleriert wird. Anerkennung dagegen gehe von der Ebenbürtigkeit
beider Gruppen aus und beinhalte einen „universalistischen“ Aspekt (die Achtung
vor der allgemeinen Menschenwürde eines jeden einzelnen) sowie einen
„relativistischen“ Aspekt (die Achtung vor der kulturellen Verschiedenheit der
Menschen), die beide - um der Eintracht und des friedlichen Zusammenlebens
willen - immer wieder zum Ausgleich gebracht werden müssen (vgl. Honneth 1994).
Versucht man das Selbstverständnis der
interkulturellen Pädagogik genauer zu charakterisieren, dann läßt sich
folgendes sagen: interkulturelle Erziehung ist kein weiteres Unterrichtsfach,
sondern durchgängiges Unterrichtsprinzip. Indem sie zentrale Fragen des
Zusammen- und Miteinanderlebens aufgreift, bearbeitet sie „Schlüsselprobleme“,
und indem sie elementare Fähigkeiten des Problem- und Konfliktlösens einübt,
vermittelt sie „Schlüsselqualifikationen“. Damit ist sie der „allgemeinen
Bildung“ verpflichtet und ausreichend legitimiert, einen herausgehobenen Platz
in den Schulprogrammen und Bildungsplänen einzunehmen. Die
Kultusministerkonferenz hat ihre Bedeutung schon vor langem erkannt. In der
Empfehlung „Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule“ (1996) hebt
sie nicht nur die Notwendigkeit zum gegenseitigen Respekt und zum
interkulturellen Dialog hervor, sondern nimmt auch die wissenschaftliche
Diskussion auf und kennzeichnet - zum Beispiel - Vorurteile als gesellschaftlich
bedingt, Kulturen als historisch gewachsen und „Differenzen“ als sozial
konstruiert. Nach dem - hier leicht modifizierten - Lernzielkatalog der
KMK-Empfehlung sollen die Schülerinnen und Schüler folgende Kompetenzen
erwerben:
-
sich
ihrer jeweiligen Sozialisation und Lebenszusammenhänge bewußt werden
-
über
andere Kulturen und Lebensweisen Kenntnisse und Einsichten erwerben -
Neugier,
Offenheit und Verständnis für andere kulturelle Prägungen entwickeln
-
kulturelle
Vielfalt als Bereicherung und Herausforderung empfinden
-
Differenzen
anerkennen und das Anderssein der anderen respektieren
-
anderen
kulturellen Lebensformen begegnen und sich mit ihnen produktiv
auseinandersetzen und dabei Ängste eingestehen und Spannungen aushalten -
Vorurteile
gegenüber Fremden und Fremdem wahr- und ernstnehmen
-
den
eigenen Standpunkt reflektieren, kritisch prüfen und Verständnis für andere
Standpunkte entwickeln
-
Konsens
über gemeinsame Grundlagen für das Zusammenleben in Schule, Gesellschaft und
Staat finden
-
Konflikte,
die aufgrund unterschiedlicher ethnischer, kultureller und religiöser
Zugehörigkeit entstehen, friedlich austragen und durch gemeinsam vereinbarte
Regeln beilegen können (Kultusministerkonferenz 1996: 314).
Festzuhalten ist, daß der
Lernzielkatalog der Kultusministerkonferenz vornehmlich den Vorstellungen des
begegnungsorientierten Ansatz folgt und die Anliegen des strukturorientierten
wie des bilingualen Ansatzes weitgehend vernachlässigt, was nicht ganz
unproblematisch ist, weil dadurch das soziale und sprachliche Umfeld mit seinen
Ungleichheiten und Unverständlichkeiten aus dem pädagogischen Blick zu geraten
droht. Dennoch ist die Empfehlung der Kultusministerkonferenz zu begrüßen, denn
in der von ihr favorisierten Form interkulturellen Lernens sollen nicht einfach
zusätzliche Fakten und Kenntnisse vermittelt, sondern vor allem
lebenspraktische Fähigkeiten und Fertigkeiten eingeübt werden, die - durch
Selbstreflexion und Perspektivenwechsel unterstützt – dazu beitragen, die
Entwicklung von Empathie, Toleranz und Solidarität, von personaler, sozialer
und kultureller Identität zu fördern. Letztlich wird die Schule von der
Kultusministerkonferenz als „sozialer Erfahrungsraum“ betrachtet, in dem sich
die Kinder verschiedener Kulturen als gleichwertig empfinden können und lernen
sollen, „Befremden ernstzunehmen“, „Angst in Neugier zu verwandeln“ und
„Konflikte konstruktiv zu bewältigen“. Damit ist ein langwieriger Prozeß der
zunehmenden Internalisierung fremder Normen, Werte und Verhaltensweisen
verbunden. Idealiter verläuft dieser Lernprozeß in vier Phasen: (1.) „von
Übergeneralisierung und stereotyper Fremdwahrnehmung zur Differenzierung“, (2.)
„von ‚Rezeptwissen‘ zum Verstehen der anderen Handlungslogik“, (3.) „vom bloßen
Verstehen zur aktiven Übernahme fremder Regeln“, (4.) „von der Regelbefolgung
zur Identifikation“ (Auernheimer 2003: 82f.).
3. Die Bedeutung der Pisa-Studie für
die interkulturelle Erziehung
Die Pisa-Studie, die seit über zwei
Jahren die Öffentlichkeit erregt, ist eine internationale Forschungsarbeit, in
der von Alaska bis Australien in 32 Staaten 180 Tausend 15-jährige Schülerinnen
und Schüler bezüglich ihrer Lesekompetenz sowie ihrer mathematischen und
naturwissenschaftliche Grundbildung untersucht wurden. Interessant ist in
unserem Zusammenhang, daß in der Pisa-Studie auch Daten zur sozialen Situation
der Zuwanderer erhoben und mögliche Beziehungen zwischen den drei genannten
Basiskompetenzen und den drei Faktoren: Schichtzugehörigkeit, kulturelle
Distanz und Beherrschung der Zweitsprache, geprüft wurden. Hier die für die
Bundesrepublik wichtigsten Ergebnisse:
-
Die Höhe
der Bildungsbeteiligung bei Kindern mit deutscher und mit kulturell gemischter
Herkunft unterscheidet sich nur unwesentlich. Bei Jugendlichen aus reinen
Zuwandererfamilien sinkt sie indes erheblich: dort liegt der Hauptschulbesuch
bei 50 Prozent und der Gymnasialbesuch bei 15 Prozent. (Zum Vergleich: von den
15-jährigen deutschen Jugendlichen besuchen 35 Prozent die Hauptschule, 30
Prozent das Gymnasium.)
-
Für die
unterschiedliche Bildungsbeteiligung der Schüler mit Migrationshintergrund ist
primär weder die soziale Lage noch die kulturelle Distanz der Familie als
solche verantwortlich; von entscheidender Bedeutung ist vielmehr die
Beherrschung der deutschen Sprache. Wird in der Grundschule kein befriedigendes
Niveau erreicht, ist die kompensatorische Spracherziehung schwierig und
erbringt nur unter günstigen Voraussetzungen größere Fortschritte.
-
Ca. 20
Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund sind „extrem schwache Leser“, und
fast 50 Prozent der Jugendlichen aus Zuwandererfamilien überschreiten im Lesen
nicht die elementare Kompetenzstufe I, auch wenn sie zu über 70 Prozent vom
Kindergarten bis zum Ende der Pflichtschulzeit durchgehend deutsche Schulen
besucht haben. (Zum Vergleich: von den 15-jährigen deutschen Jugendlichen liegt
der Anteil der „extrem schwachen Leser“ bei 10 Prozent).
-
Ernsthafte
Defizite in der Sprachbeherrschung können nicht durch Leistungsstärken in
anderen Lernbereichen kompensiert werden - im Gegenteil: ein unzureichendes
Lese- und Sprachverständnis wirkt sich kumulativ auf andere Sektoren aus und
beeinträchtigt den Erwerb höherer Kompetenzen nicht nur in den
geisteswissenschaftlichen Fächern, sondern auch in Mathematik und den
Naturwissenschaften (Baumert 2001: 340ff., 372ff.).
Die Pisa-Studie gibt einen
ernüchternden Einblick in die Schulwirklichkeit und entwickelt einige für die
interkulturelle Erziehung aufschlußreiche Hypothesen. So stellt sie zum
Beispiel fest, daß weniger die soziale und kulturelle Integration als vielmehr
die mangelnde Beherrschung der deutschen Sprache die Bildungschancen der
Migrantenkinder behindert. Zugleich ist offensichtlich, daß der niedrige
sozioökonomische Status, die hohe „ethnische Isolation“ und dadurch der relativ
geringe Kontakt mit dem Deutschen vor allem diejenigen Jugendlichen beim Erwerb
der Basiskompetenzen benachteiligt, deren Eltern aus der Türkei oder aus dem
ehemaligen Jugoslawien stammen. Leider haben Jürgen Baumert und seine Kollegen
in der Pisa-Studie nicht untersucht, ob die These von Gesa Siebert-Ott (2001)
zur bilingualen bzw. bikulturellen Bildung stimmt, nämlich daß die Ausbildung
der Erstsprache auch den Erwerb der Zweitsprache - insbesondere der Lese- und
schriftlichen Ausdrucksfähigkeit - unterstützt. Im Gegensatz zu Siebert-Ott
vertreten die Autoren der Pisa-Studie jedenfalls die Meinung, spätestens in der
Grundschule müßten alle Kinder - also auch die „einheimischen“ - intensiver als
bisher in der Verkehrssprache unterrichtet werden, wie es bereits etwa in Dänemark,
Norwegen und Schweden mit gutem Erfolg geschehe, denn anders ließen sich die
Defizite in der deutschen Sprache und in den anderen Lernbereichen nicht
kompensieren (vgl. Baumert 2001: 394ff.).
4. Chancen und Probleme des
interkulturellen Lernens
Die interkulturelle Erziehung verfolgt
hohe Ziele, sie sind allerdings oft nur schwer zu verwirklichen. Worauf die
Pisa-Studie, aber auch das
neueste Gutachten der Bund-Länder-Kommission zur „Förderung von Kindern und
Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ (2003) immer wieder hingewiesen hat: das bundesdeutsche
Bildungssystem besitzt eine Struktur, die die Auseinandersetzung mit dem
Anderen und die Eingliederung der Zuwandererkinder eher verhindert als
erleichtert. Drei kritische Punkte seien genannt:
-
Mit seiner
Mehrgliedrigkeit wirkt das deutsche Schulsystem selektiv und trägt mit seinem
Zwang zu frühen Schullaufbahnentscheidungen dazu bei, daß besonders
Minderheiten und Migranten in ihrer individuellen Entwicklung und sozialen
Integration benachteiligt werden.
-
Die
äußere Differenzierung nach dem Ende der Grundschul- und Orientierungszeit läßt
Klassen und Lerngruppen entstehen, die nur scheinbar homogen und einheitlich
sind. Für die tatsächliche Vielfalt und Heterogenität ihrer Klientel sind vor
allem die Lehrer der weiterführenden Schulen und Bildungseinrichtungen nicht
ausgebildet worden.
-
Die
deutsche Schule ist auf den Vormittag konzentriert und vergibt somit viele
Gelegenheiten, auf die Bedürfnisse der deutschen wie der zugewanderten Kinder
einzugehen und sprachliche Kompetenz, interkulturelle Kommunikation und soziale
Interaktion zu fördern (vgl. Baumert 2001).
Mit dieser Analyse wird meistens die
Forderung verbunden, auch zur Intensivierung der interkulturellen Erziehung,
Gesamtschulen oder zumindest Ganztagesschulen einzurichten. Der - obligate -
Hinweis auf die Notwendigkeit einer Schulstrukturreform sollte jedoch nicht
vergessen machen, daß auch im vorhandenen Bildungssystem zahlreiche
Möglichkeiten bestehen, die allseits bewährten Methoden des sozialen und
politischen Lernens wie etwa: Medienanalyse, Rollenspiel, Theateraufführung,
Videoproduktion, Lehrerbefragung, Stadtteilerkundung, Schüleraustausch -
einzusetzen, um bei allen Kindern Fähigkeiten wie „interkulturelle
Sensibilität“, „normative Flexibilität“ und „sympathetische
Multiperspektivität“ auszubilden. Auch Projekte wie Schülerclubs,
Patenschaften, mediale Schulpartnerschaften, gemeinsame Feste, internationale
Zeitungen können den Kontakt mit fremden Menschen und Kulturen erleichtern und
Erfahrungen erzeugen, die - weil handlungsorientiert und affektiv besetzt -
besonders lernwirksam sind (vgl. Interkulturelles Lernen 1998, Apel/Knoll
2001).
Dennoch sei vor allzu großem
pädagogischen Optimismus gewarnt. Anspruch und Wirklichkeit fallen nicht selten
auseinander, und nur zu oft bewirken Lehrer und Erzieher genau das Gegenteil
von dem, was sie erreichen wollten. Denn wie überall in der Pädagogik, wo es um
das Erlernen neuer Einstellungen, Haltungen und Verhaltensweisen geht, ist auch
bei der interkulturellen Erziehung mit massiven Verweigerungen und Widerständen
der Betroffenen zu rechnen. „Lernwiderstände“, faßt Auernheimer (2003: 126)
seine langjährigen Erfahrungen zusammen, „sind vermutlich umso
wahrscheinlicher, je mehr die Teilnehmer oder Schüler sich von oben belehrt
fühlen, je weniger ihre Erfahrungen mit den intendierten Botschaften
übereinstimmen, je mehr sie aufgrund großer Unsicherheit eine Desorientierung
befürchten, wenn sie sich auf das Neue einlassen, je mehr sie eigene
Bedürfnisse, Interessen beeinträchtigt wähnen, d. h. je weniger Mißtrauen
abgebaut werden kann und auch je weniger sich die Lernenden von einer
Einstellungs- und Verhaltensänderung eine Besserung ihrer Situation bzw. ein
Mehr an Handlungsfähigkeit erwarten.“
Tatsächlich scheitern viele Projekte
und Vorhaben an der ungenügenden Vorbereitung, an der unreflektierten
Durchführung und an den „unbeabsichtigten Nebenwirkungen“ des Unterrichts.
Lehrer und Erzieher sollten sich über die spezifischen Schwierigkeiten und
Gefahren bewußt sein, die als Folge wohlmeinender „Anerkennungs- und
Verteilungsgerechtigkeit“ und in Form sozialer Diskriminierung und kultureller
Stigmatisierung auftreten können (Diehm/Radtke 1999). Ein paar der am
häufigsten vorkommenden Probleme und Dilemmata seien zum Schluß kurz genannt:
-
kulturelle
Differenzen werden gar nicht mehr wahrgenommen, weil Harmoniebedürfnis und
Verständigungswille übermäßig ausgeprägt sind
-
kulturelle
Unterschiede werden - bewußt oder unbewußt - geleugnet, um Nationalismus,
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nicht weiter zu begünstigen
-
kulturelle
Unterschiede werden so fest und streng kategorisiert, daß vorhandene Vorurteile
und Stereotype bestätigt, nicht beseitigt werden
-
die Nichtbeachtung kultureller Differenz - gemäß des Prinzips der Gleichheit -
wie ihre Hervorhebung - gemäß des Prinzips der Anerkennung - können
diskriminierend wirken (Diehm/Radke 1999)
-
Armut
und Benachteiligung von Minderheiten werden so emotional und mitleiderheischend
dargestellt, daß nur Unverständnis, Hochmut und Überheblichkeit befördert
werden
-
der
Stolz auf die Menschenrechte als Errungenschaft der europäischen Aufklärung
verleiht eine moralische Integrität und Überlegenheit, die eine verfeinerte Art
der Diskriminierung darstellt.
Literatur
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