In: John Dewey als Pädagoge. Erziehug - Schule - Unterricht. Hrsg. Franz-Michael Konrad und Michael Knoll. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2018. S. 203-242. Hier ein Auszug.
Am 1. Juli 1894 kam John Dewey nach Chicago, um dort an der jüngst
von John Rockefeller gestifteten und von William R. Harper geleiteten University
of Chicago seine neue Stelle als Professor und Direktor des Departments für
Philosophie, Psychologie und Pädagogik anzutreten. Anders als in der
Philosophie und Psychologie, wo er sich mit Studien über Logik, Ethik,
Metaphysik und einem Lehrbuch über Psychologie einen Namen gemacht hatte, war
Dewey in der Pädagogik eigentlich ein Novize. Trotzdem bestand er darauf, auch für
diesen Fachbereich zuständig zu sein, ihn aufzubauen und weiterzuentwickeln. Eine
wichtige Funktion sollte dabei die Schule übernehmen, die er zusammen mit
Harper gründen und mit der pädagogischen Abteilung institutionell verbinden
wollte. Der Wunsch nach einer eigenen Schule entsprach nicht zuletzt dem Familieninteresse,
denn Dewey wollte seine Kinder nicht den desaströsen Zuständen ausliefern, die
er an den öffentlichen Schulen Chicagos beobachtet hatte. Insbesondere durch
Begegnungen mit Francis W. Parker (1883), dem legendären Leiter der Cook County
Normal School, und mit Mary R. Alling Aber (1884), der ehemaligen Leiterin der ebenso
progressiven Primarschule von Pauline Agassiz Shaw, gewann Dewey eine erste
Vorstellung, wie moderner Schulunterricht aussehen konnte. Bereits vier Monate
nach seiner Ankunft in der brodelnden Weltstadt am Lake Michigan teilte er
seiner Frau Alice in einen enthusiastischen Brief seine Ansichten mit:
„Es ist da ein Bild von einer Schule, das beständig wächst in
meiner Vorstellung; einer Schule, in der irgendeine reale & buchstäblich
konstruktive Aktivität Mittelpunkt und Ursprung der ganzen Sache zu sein hat
und von wo aus sich die Arbeit immer in zwei Richtungen entfalten soll: zum
einen die soziale Bedeutung dieser konstruktiven Tätigkeit, zum anderen die
Natur, die das Material dazu liefert. Ich kann mir, theoretisch, vorstellen,
wie das Schreinern etc. beim Bau eines Modellhauses das Zentrum der sozialen
Erziehung auf der einen und das der wissenschaftlichen auf der anderen Seite
darstellt, alles verbunden mit einer Ausbildung positiver konkreter physischer
Gewohnheiten von Auge & Hand. Und all die Materialien und Methoden für
solch eine Schule existieren, sie liegen lose und verstreut herum. Es gibt die
Kindergartenmethoden, das technische Werken, die Naturkunde, die Koordination
der Fächer etc. pp.“ (1894.11.01, 00218).
Am 1. November 1894 entwarf Dewey also die, noch vage, Idee einer idealen
Schule. Sie war, wie er richtig bemerkte, nicht außergewöhnlich und hielt sich
mit ihrer Handlungs-, Sozial- und Wissenschaftsorientierung im Rahmen dessen,
was – anknüpfend an Comenius, Rousseau, Pestalozzi und Fröbel – im englischen
Sprachraum seit den 1860er Jahren unter der Bezeichnung „new education“ etwa von
Herbert Spencer (1861), Charles W. Eliot (1869), Francis W. Parker (1883), William N. Hailmann (1884) und G. Stanley Hall (1885) propagiert und unter
dem Slogan „learning by doing“ zum Teil auch schon in Kindergärten, Schulen und
Colleges realisiert worden war (Knoll 2015a). Doch Dewey wollte nicht nur eine
exzellente Schule für seine Kinder, sein Ehrgeiz zielte weit darüber hinaus. So
bezeichnete er zwar Wilhelm Reins Übungsschule in Jena, Nicholas M. Butlers
Horace Mann School in New York und auch Francis Parkers Cook County Normal
School in Chicago als „Außenposten des pädagogischen Fortschritts“, er fügte aber
sofort hinzu, dass die von ihm geplante Schule kein Abbild der Vorgängerinnen
sein konnte; denn dort war es seiner Meinung nach, trotz aller gegenteiliger
Bekundungen, mit solider Wissenschaft und experimenteller Forschung nicht allzu
weit her. Unter seiner Regie sollte dagegen eine „Versuchsstation“ entstehen,
an der exzeptionelle Lehrer und Studenten mit Berufserfahrung wissenschaftlich
tätig seien und sich vornehmlich der Aufgabe widmeten, eine grundsätzlich neue
Erziehungs- und Unterrichtstheorie zu entwickeln. „Das Konzept, das der Schule
zugrunde liegt, ist das eines Labors“, erklärte Dewey bald nach Eröffnung der
Schule im Herbst 1896. „Es hat dieselbe Beziehung zur Pädagogik wie ein Labor
zur Biologie, Physik oder Chemie. Wie jedes derartige Labor hat es zwei
Hauptziele: (1.) Theorien und Hypothesen zu präsentieren, zu testen, zu
verifizieren und zu kritisieren; (2.) die Zahl der Fakten und Grundlagen auf
seinem speziellen Gebiet zu vermehren“(EW 5, S. 437).
Die Idee einer „Laborschule“ war natürlich nicht neu. Schon 1879
hatte Theodor Wiget die herbartianischen „Übungsschulen“ in Leipzig und Jena
als „pädagogische Laboratorien“ bezeichnet, und 1884 hatte die State Normal
School in Peru, Nebraska, verkündet, dass die eigene „Modell- und Praxisschule“
das „wahre Labor“ der pädagogischen Erneuerung und Lehrerbildung sei (Knoll
2015b, S. 207f.). Doch Dewey wollte über den Herbartianismus und alle anderen modernen
Ansätze hinaus ein Konzept entwickeln, das Schule und Unterricht
revolutionierte und ihnen erstmals ein solides wissenschaftliches Fundament gab.
Was Dewey an seiner im Januar 1896 eröffneten und seit 1901 sogenannten „Laboratory
School“ genau anstrebte, war nicht die Erforschung spezieller Methoden, die das
Lehrer- und Schülerverhalten technokratisch steuerten, sondern die Entwicklung allgemeiner
Prinzipien und Verfahren, die Curriculum und Unterricht „human“ und zugleich „effizient“
gestalteten. Die Wende, die Dewey herbeiführen wollte, war nicht weniger als „kopernikanisch“.
In seinem Bestseller „School and Society“ (1899) gab er als Devise für die
Laborschule aus, und insgesamt für die progressive Erziehung, dass das Kind, nicht
wie traditionell der Lehrer, die „Sonne“ sein solle, um die sich in Schule und Erziehung
alles zu drehen habe (MW 1, S. 23).
[...] Schülerfreiheit vs. Lehrerlenkung
– die verdeckte Kontroverse mit George Brown Einer der ersten Personen, die Deweys Laborschule besuchten und
ihre Beobachtungen niederschrieben, war George P. Brown, der ehemalige
Präsident der Indiana State Normal School und einflussreiche Verleger von
pädagogischen Büchern und Zeitschriften. Über seinen Besuch veröffentlichte Brown
einen Aufsatz, der am 16. Juni 1897, d.h. eineinhalb Jahre nach Eröffnung der
Schule, im „Public School Journal“ unter der Überschrift „Dr. John Dewey’s
Educational Experiment“ erschien.
Der Zeitpunkt, an dem Brown die Schule besuchte, war kein
besonders günstiger, denn wie jeden Montag waren die Schüler zum großen Teil
damit beschäftigt, sich auf einen Erkundungsgang vorzubereiten. Dieses Mal
sollte es in den Hyde Park gehen, um Pflanzen zu bestimmen, bzw. an den Lake
Michigan, um Kieselsteine zu sammeln und ihrer Entstehung und Formung nachzuspüren.
Andere Gruppen, die Brown beobachtete, unternahmen es, Vogelkästen zu bauen
oder griechische Geschichten zu lesen. Trotz seines nur kurzen Aufenthalts ist
das, was Brown auf fünf eng gedruckten Seiten mitteilte, lesenswert und aufschlussreich,
nicht zuletzt, weil er nicht bedingungslos der Verherrlichung des Alten oder
dem Charme des Neuen erlag und auch nicht den Gegensatz übersah, der offensichtlich
an der University Primary School zwischen Anspruch und Wirklichkeit herrschte.
In seinem Aufsatz setzte sich Brown insbesondere mit drei Postulaten der
Deweyschen Pädagogik kritisch auseinander:
– Interesse: Obwohl sich nach Dewey durch Berücksichtigung der kindlichen
Interessen das Problem der Aufmerksamkeit und Beteiligung erledigte, waren die
Schüler häufig nicht bei der Sache. Dieses Phänomen beobachtete Brown zum einen
bei der Vorbereitung der Erkundungsgänge, als die Lehrer zwar versuchten, an
den Erfahrungen der Kinder anzuknüpfen und die zu behandelnden Inhalte durch
Bilder und Gegenstände zu veranschaulichen, sich aber die Begeisterung der
Schüler in Grenzen hielt und sich nur wenige von ihnen am Unterrichtsgespräch
beteiligten. Desinteresse entdeckte Brown auch in der speziellen Lesestunde,
die erstmals und probeweise an der Schule eingerichtet worden war. Sie lief
methodisch so ab, dass die, wohl älteren, Schüler nacheinander an die Reihe
kamen und absatzweise die „griechischen Geschichten“ vorlasen, die
augenscheinlich den vorangegangenen Geschichtsunterricht vertiefen und
bereichern sollten. Nach Brown war es „ganz offensichtlich, dass die Kinder
nicht sehr an dem interessiert waren, was sie gerade lasen.“ Sein allgemeines
Fazit lautete: „In Stunden, in denen die Sinne weniger aktiv beteiligt sind
[als etwa im technischen Werken], waren die Ergebnisse, diese Theorie [der intrinsischen
Motivation] anzuwenden, weit weniger befriedigend“ (Brown 1897, S. 536).
– selbstbestimmtes Lernen: „Obwohl die Theorie dieses pädagogischen Experiments besagt,
dass sich die Schüler selbst ihre Aufgaben geben, existierte kein Mangel an
Vorschlägen und Anleitung durch den Lehrer.“ Selbst Frederick Smedley, der
Werklehrer, so Brown, stellte „die Aufgaben und hielt die Schüler zur Arbeit
an, genauso bewusst, wenn auch indirekter, als es in vielen guten Schulen der
Fall ist. Ein Machtwort hörte man nicht, aber die eiserne Hand in
Samthandschulen war offensichtlich genug.“ Nach Brown war es die Absicht des
Lehrers, „den Schüler solange bei der Hand zu führen, bis dieser seiner Meinung
nach die Aufgabe selbst bewältigen konnte.“ Offensichtlich hielt der mit der
psychologischen Kinderforschung bestens vertraute Smedley von Deweys
pragmatistischer Idee, das „Lernen durch Fehler“ als reizvoll und motivierend
zu betrachten, nicht allzu viel. Um die Kinder nicht zu „entmutigen“,
erläuterte er dem Besucher seine Einstellung, müsse man schrittweise vorgehen,
präzise Anweisungen geben und Fehler unbedingt „verhindern“, denn Misserfolge
seien für Schüler „ein größeres Übel als jeder Nutzen, den sie in diesem Alter
durch die ‚Disziplin der Konsequenzen‘ gewinnen könnten“ (Brown 1897, S. 536,
534).
– Disziplin: Obwohl Dewey meinte, in einem Unterricht, der sich an den
Grundbedürfnissen des Menschen und an den lebensweltlichen Erfahrungen der
Kinder orientierte, würden mangelnde Motivation und Einsatzbereitschaft kein
Thema sein, beobachtete Brown oftmals das Gegenteil. Eine gewisse
Disziplinlosigkeit herrschte vor allem in den nicht-manuellen Fächern. Dort
zeigten die zumeist älteren Schüler „wenig Pflichtgefühl gegenüber der Klasse
oder dem Lehrer. Wenn sie durch ihre Unordnung und Unaufmerksamkeit die Klasse
störten oder den Lehrer verärgerten, kümmerte es niemanden.“ Sie machten
einfach, was ihnen ihre „Spontaneität“ eingab, ohne dass sie die „Regeln des
Anstands“ und des sozialen Umgangs beachteten, die das Gemeinschaftsleben
erträglich, ja „erfreulich“ machten. Diese „regellose Freiheit“, konstatierte
Brown, bedeutete nicht nur eine „unnötige Vergeudung von Zeit und Energie“, sie
hinderte den Lehrer auch daran, die „rationale Freiheit“ auszuüben, die das
Lernen der Schüler fördert und nachhaltig voranbringt (Brown 1897, S. 535f.).
Am Schluss seines Aufsatzes versäumte Brown nicht, auf die
Sondersituation hinzuweisen, die an Deweys Schule existierte. Wie Dewey
bestritt er, dass die University Primary School ein Vorbild für die
öffentlichen Schulen abgeben könne, doch anders als dieser, begründete er auch
seine Meinung, und zwar mit Hinweis auf die Zahl und auf die soziale Lage der
Schüler. Von den ca. 30 Schülern, schrieb Brown, die offiziell auf den
Gruppenlisten ständen, seien „im Durchschnitt“ lediglich 20 anwesend, und diese
würden von „sieben oder acht Lehrern und Assistenten“ betreut. Die didaktischen
Prinzipien der Dewey School ließen sich also nicht einfach auf das öffentliche
Schulwesen übertragen, dazu wich die Lehrer-Schüler-Relation von 1 zu 3 zu sehr
vom nationalen Standard ab, der bei 1 zu 40 bis 60 lag. Überdies, fügte Brown
hinzu, sei der kulturelle Unterschied zu groß, der zwischen der Klientel der
beiden Schultypen herrschte, um einen mühelosen Transfer der Inhalte und
Methoden zu bewerkstelligen. An der Universitätsschule würde nämlich der Erwerb
der Kulturtechniken nur eine untergeordnete Rolle spielen. Im Gegensatz zur
öffentlichen Schule sei dies dort auch weiter kein Problem, argumentierte
Brown, denn die Schüler der privaten Universitätsschule würden einer
privilegierten Schicht angehören, in der die Eltern ihre Kinder von sich aus
zum Lesen- und Schreibenlernen anhielten und im selbständigen „Gebrauch von
Büchern“ unterstützten. Trotz all seiner Kritik sprach Brown dem Schulversuch
jedoch nicht seine Berechtigung ab – im Gegenteil: in vieler Hinsicht,
versicherte er, sei das Experiment „sehr anregend und inspirierend“ und werde
„unzweifelhaft“ einen wesentlichen Beitrag zur „dringend notwendigen Reform“
des Schulunterrichts leisten (Brown 1897, S. 536f.).
Ob Dewey von Browns Aufsatz je Kenntnis erlangte, wissen wir
nicht. Sicher ist jedoch, dass er dem Herausgeber des Public School Journal in
einem Punkt herzhaft zugestimmt und ihm in einem anderen vehement widersprochen
hätte.
Zunächst zur Übereinstimmung. Wie Brown missbilligte Dewey
Disziplinlosigkeit und Chaos auf das schärfste. Die „Fülle und Freiheit der
Erfahrung“, betonte er immer wieder, müsse geschützt und dürfe nicht Einfällen,
Flausen und Ungezogenheiten geopfert werden, die das Lernen und Wachsen störten
oder unmöglich machten. Spontane „Interessen zu dulden, heißt, das Permanente
durch das Vorübergehende zu ersetzen […, und] genuine Interessen durch Launen
und Grillen“ (EW 5, S. 93). Diese erstmals 1897 in „My Pedagogic Creed“
vertretene und von Dewey vielfach wiederholte Ansicht galt nicht nur in
individueller, sondern auch in sozialer Hinsicht. Der alten liberalen Maxime
folgend, hatten Toleranz und Offenheit seines Erachtens da ihre Grenze, wo die
Rechte und Ansprüche eines anderen eingeschränkt oder gar mit Füßen getreten
wurden. Doch Disziplin, wie seinerzeit üblich, durch Strafarbeit, Nachsitzen,
Rutenschläge herzustellen, davon hielt Dewey, wie alle modernen
Reformpädagogen, natürlich nichts (Scheibe 1967, S. 217ff.). Strafen und
Sanktionen, betonte er, würden nur „Wissbegierde“, „Wachsamkeit“, „Initiative“
schwächen und Abwehr, „Widerstand“, „Unordnung“ hervorrufen. Das einzige Mittel,
Disziplin zu erlangen und aufrechtzuerhalten, sei ein Unterricht, in dem
„Selbstaktivität“ und „Selbstausdruck“ des Schülers an oberster Stelle standen.
„Disziplin“ müsse von innen kommen. Sie entstehe nur, erläuterte Dewey in der
überarbeiteten Fassung von „Interest as Related to Will“, „wenn man seine
Kräfte ökonomisch, frei und voll in eine Arbeit stecken kann, die von sich aus
wert ist, getan zu werden“ (EW 5, S. 145). Dennoch, bei aller Wertschätzung des
Kindes, seiner Bedürfnisse und Besonderheiten, Gewähren-lassen, Laissez-faire
und schrankenlose Rücksichtnahme auf individuelle Stimmungen und
Befindlichkeiten war Deweys Sache nicht. „Außer
durch tödliche Langeweile und starre Routine“, hatte er bereits vor Browns Besuch in seinem „pädagogischen
Glaubensbekenntnis“ verkündet, „ist unsere Erziehung durch kein größeres Übel
bedroht als durch den Sentimentalismus“ (EW 5, S. 93).
Nun zur Hypothese von Brown, Dewey sei ein Vertreter der, wie man
damals sagte, „weichen Pädagogik“ und habe den Schülern das Recht zur
curricularen Selbstbestimmung und Selbstorganisation gewährt. Diese Mutmaßung
hätte Dewey entschieden zurückgewiesen. Allerdings ist die Beweisführung nicht
ganz einfach. Denn wie so oft neigte Dewey auch in dieser Frage dazu, Gedanken
und Sätze zu formulieren, die für sich genommen in der Lage waren, Fehlurteile
zu befördern und haltlose Unterstellungen zu provozieren. Das Kind, stellte Dewey
etwa in „Interest Related to Will“ fest, sei ein „expressives Wesen“ mit dem
„Drang“, „sich selbst zu realisieren“. „Selbstaktivität, „Selbstausdruck“ und
„Selbstverwirklichung“ waren unstreitig die grundlegenden Begriffe seiner
Pädagogik und der damals heiß diskutierten und nachweislich auch von Brown kritisch
rezipierten Schrift (EW 5, S. 147). Dewey selbst folgerte aus diesen Formeln,
die der Fröbelschen Kindergartenbewegung entstammten, dass der Lehrer dem Kind keine
Aufgaben und Anforderungen stellen dürfe, die es von sich aus nicht bearbeiten
oder erfüllen will. Äußerer „Zwang“ sei kontraproduktiv und bewirke bestenfalls
eine schlechte Gewohnheit, nämlich die der „geteilten Aufmerksamkeit“. „Das
Kind“, erläuterte Dewey, „das unter der Theorie der Anstrengung [und des Zwangs]
erzogen wird, erwirbt einfach nur eine fabelhafte Fähigkeit, so zu erscheinen,
als sei es mit einem [für das Kind] uninteressanten Inhalt beschäftigt, während
sich sein Herz und seine Energien auf andere Dinge konzentriert“ (S. 115). Wenn
das Kind lediglich als „Objekt“, Schüler, Rollenträger behandelt und nicht als
Subjekt, Individuum, „Person“ anerkannt werde, finde Lernen im substantiellen
Sinn nicht statt; es bleibe „äußerlich“, „irrelevant“, „wirkungslos“. Das
Ergebnis einer solch unpersönlichen, „schulmeisterlichen“ Erziehung wäre
unvermeidlich ein Mensch, der sich entweder „borniert“, „bigott“,
„verantwortungslos“ oder „dumm, schematisch, achtlos“ verhält und sich darüber
hinaus „Autoritäten“, sei es des Staates oder anderer Mächte, mühelos
unterordnet oder sogar freudig „unterwirft“.
In seinem Aufsatz „Results of Child-Study Applied to Education“ (1896)
fügte Dewey hinzu, es sei ein „fundamentaler Irrtum“ der traditionellen, aber
letztlich auch der kantianischen und herbartianischen Pädagogik, „das Kind als
etwas zu betrachten, das erzogen, entwickelt, unterrichtet oder amüsiert“
werden müsse. Vielmehr sei das Kind „immer mit eigenen Dingen beschäftigt, die
gegenwärtig und dringend sind und nicht erfordern‚ ‚veranlasst‘,
‚herausgezogen‘ oder ‚entfaltet‘ etc. zu werden“ (EW 5, S. 204). „Intrinsisches
Interesse“, ergänzte er in dem Vorlesungsskript „Educational Psychology:
Syllabus of a Course of Twelve Lectures“ von 1896, besitze eine „eigene
Qualität“; sie sei nicht „künstlich“ erzeugt, brauche keine „Strafen“ und ziele
nicht „auf die Gunst von Eltern und Lehrer“ ab. „Extrinsische“ Motivation
dagegen bedeute „Ablenkung, belanglose Stimulierung und somit geistige und
moralische Zerrüttung“. Es sei ein gravierender, nicht hinnehmbarer „Fehler“,
folgerte Dewey, wenn ein Lehrer, versuche, im Unterricht Ziele, Themen, Inhalte
„von außen“ und „autoritativ“ festzulegen (EW 5, S. 325, 327).
Nach diesen Ausführungen könnte man meinen, Dewey würde auf
jegliche intentionale Erziehung verzichten und Brown hätte mit seiner These vom
Selbstbestimmungsrecht des Kindes den Kern der Deweyschen Pädagogik getroffen.
Doch das ist nicht der Fall. Wie in allen Erziehungstheorien mit Ausnahme
anarchistischer, antiautoritärer oder radikal konstruktivistischer Herkunft
spielte auch bei Dewey der Lehrer die meist verdeckte, aber letztlich immer
dominante Rolle im Schulunterricht. Seine Tätigkeit bestand insbesondere darin, „jede
beliebige Art des Selbstausdrucks zu nutzen, sie zum Funktionieren zu bringen,
sie zu einem Instrument zu formen, das dem Kind die neuen und weitergehenden Ziele
bewusst macht und seine Aktivität so umlenkt, dass das [bereits] erreichte Ziel
als Mittel zum neuen Ziel dient“. „Wenn der Lehrer überhaupt eine Aufgabe hat“,
ergänzte Dewey, „dann die, dass er die gegenwärtigen Interessen des Kindes im
Lichte ihres objektiven Zwecks und Grunds interpretiert und dann das Kind mit
solchen Inhalten und Mitteln versorgt, dass es seine eigenen Interessen
ausdrücken und sie mit den Interessen des sozialen Ganzen identifizieren kann“ (1896,
S. 244).
Einen unüberwindlichen Gegensatz zwischen den subjektiven
Interessen des Kindes und den objektiven Interessen der Gesellschaft schloss
Dewey somit aus. Falls sich dennoch ein Widerspruch auftat und Lernen und
Fortschritt zu hemmen drohte, hatte der Lehrer die Situation falsch eingeschätzt
und seinen Unterricht lebens-, kind- und handlungsfern geplant. Wenn also Schüler, die, wie von Brown beobachtet, kein Interesse am Unterricht zeigten oder über die Strenge
schlugen, hatte der Lehrer versagt und schleunigst für Abhilfe zu sorgen, indem
er seinen ursprünglichen Plan überdachte und ihn so lange änderte, bis er sein anfängliches
Ziel doch noch erreichte, indem er Aufgaben und Aktivitäten wählte, die nicht
auf Opposition und Gegenwehr stießen und den Neigungen und Fähigkeiten der destruktiven
oder desinteressierten Schüler am besten entsprachen. „Es hat sich herausgestellt“, so fasste Dewey im Juni 1896
die Erfahrung der ersten Schulmonate zusammen, „dass das Kind […] am wirksamsten
lernt, wenn es dem Pfad der größten Anfangsmotivation folgen kann“ (EW 5, S.
245). In der Tat, jedem Kind das Lernen soweit wie möglich zu „erleichtern“,
erschien Dewey als die einzig erfolgreiche Methode, um ein brauchbares
Curriculum zu entwickeln und einen Unterricht zu gestalten, der zu fruchtbaren
und nachhaltigen Ergebnissen führt.